Nach Monaten des Experimentierens mit Orten und Arbeitsrhythmen kommt die vielleicht unbequemste Erkenntnis: Wir sind alle süchtig nach Beschäftigung. Süchtig nach dem Gefühl, "produktiv" zu sein. Süchtig nach vollen Kalendern, die uns vorgaukeln, wichtig zu sein.
Was folgt ist keine weitere Anleitung zur Selbstoptimierung. Im Gegenteil. Es ist meine persönliche Auseinandersetzung mit einer radikalen Frage: Was bleibt, wenn wir aufhören zu optimieren und anfangen wegzulassen? Die Suche nach Simplicity wurde zur vielleicht wichtigsten Lektion meiner Journey.
Zeit für eine Entgiftung.
Das 6-Stunden-Paradoxon
Sechs Stunden konzentrierte Arbeit. In den meisten Büros ein halber Tag – mit Kaffeeküche, Meetings über Meetings und dem obligatorischen "kurz mal schnell". Bei mir? Ein voller Arbeitstag. Ohne Ablenkung. Ohne Multitasking-Illusion. Ohne das Theater der Geschäftigkeit.
Die unbequeme Wahrheit: In diesen sechs Stunden schaffe ich mehr als früher in zehn. Nicht weil ich schneller arbeite. Sondern weil ich aufgehört habe, Arbeit mit Anwesenheit zu verwechseln. Weil ich den Mut gefasst habe zu sagen: Nach sechs Stunden ist Schluss. Punkt. Keine Ausnahmen, keine "nur noch schnell".
Es ist faszinierend, wie viel Energie plötzlich da ist, wenn man aufhört, sie für Unnötiges zu verschwenden. Wenn man sich traut, die heilige Kuh der 40-Stunden-Woche zu schlachten. Spoiler: Die Welt geht nicht unter. Im Gegenteil: sie wird klarer.
Zeit als Design-Element
"Ich habe keine Zeit". Der grösste Selbstbetrug unserer Generation. Wir haben alle 24 Stunden. Die Frage ist nur: Wofür geben wir sie aus? Für endlose Slack-Notifications? Für das zehnte "Alignment-Meeting" diese Woche? Für Projekte, zu denen wir eigentlich Nein sagen wollten?
Es brauchte Zeit zu verstehen: Nicht die Dinge, die ich tue, rauben mir Energie. Es sind die Dinge, die ich halbherzig tue. Die Projekte, die ich aus Pflichtgefühl annehme. Die Meetings, in denen ich körperlich anwesend bin, aber gedanklich schon beim nächsten Termin. Radikal weglassen bedeutet: Nur noch das tun, was wirklich zählt – dafür aber mit voller Präsenz.
Bei nomíra übersetze ich diese Philosophie in digitale Erlebnisse. Jedes unnötige Element ist eine verpasste Chance, dem Nutzer Zeit zurückzugeben. Gutes Design schenkt Klarheit, nicht Komplexität. Weniger Klicks, weniger Entscheidungen, weniger Friction. Mehr Flow.
Die Macht des Nein
"Ja" zu einer Sache bedeutet immer "Nein" zu tausend anderen. Diese simple Mathematik vergessen wir zu oft. Wir sammeln Verpflichtungen wie Trophäen, als wäre Überlastung ein Statussymbol. Als wäre "Ich bin so busy" ein Kompliment an uns selbst.
Ich habe aufgehört, mich für meine Neins zu entschuldigen. "Passt nicht zu meinem Fokus" ist ein vollständiger Satz. "Das gibt mir keine Energie" auch. Es ist keine Arroganz – es ist Selbstachtung. Es ist das Vertrauen in die eigene Intuition, zu wissen, was richtig ist. Und noch wichtiger: was falsch ist. Oder wie Molière schreib: "Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun."
Die Ironie dabei? Je mehr ich weglasse, desto kreativer werde ich. Als würde das Gehirn erst dann richtig aufblühen, wenn es nicht mehr mit tausend Optionen jonglieren muss. Fokus ist keine Einschränkung – es ist ein Verstärker. Wie eine Lupe, die Sonnenstrahlen bündelt, bis sie Feuer entfachen.
Raum für Wunder
(und Langeweile)
Wann hast du das letzte Mal aus dem Fenster gestarrt? Ohne Podcast im Ohr, ohne Smartphone in der Hand? Wann hast du das letzte Mal… nichts getan?
Jenny Odell spricht in "Nichts tun" von der revolutionären Kraft der Aufmerksamkeitsverweigerung. Sich bewusst den Algorithmen entziehen. Nicht von einer digitalen Auszeit zur nächsten hetzen, sondern Leere als integralen Bestandteil des Alltags kultivieren. Der digitale Raum ist zum Fitnessstudio für die Seele geworden – ohne Tiefe, ohne Pausen. Alles passiert gleichzeitig, Prozesse überlagern sich, unsere Aufmerksamkeit schrumpft. Wir haben Mephisto in unser Leben geholt. Die Kunst liegt darin, aus seinen Versprechen die richtigen zu wählen. Und den Rest bewusst zu ignorieren. Joy of Missing Out statt Fear of Missing Out.
Beim Träumen geht es nicht darum, wie. Es geht darum, dein Herz sprechen zu lassen, bevor die Logik dazwischenfunkt. Wir tauschen Gewissheit gegen Wunder ein. Und nennen das dann Realismus, was oft nur ein Codewort für Angst ist. Aber diese Wunder brauchen Raum. Sie brauchen Stille. Sie brauchen das bewusste Weglassen von Input, damit Output entstehen kann.
Die Illusion der Verbundenheit
Wir sind vernetzter denn je – und verlieren uns dabei selbst. Der digitale Raum verspricht alles: Effizienz, Verbindung, Wachstum. Doch ohne bewusste Grenzen wird er zum Hamsterrad. Die Lösung liegt nicht im temporären Ausstieg, sondern in der digitalen Souveränität. Weniger Apps, dafür die richtigen. Weniger Notifications, dafür echte Kommunikation. Weniger ist das neue Mehr.
Die stille Revolution
Gesundheit ist gestaltbar. Durch das, was wir tun, aber noch mehr durch das, was wir bewusst nicht tun. Weglassen ist mehr als Zeitmanagement: es ist Gesundheitskompetenz. Die Neurobiologie zeigt: Unser Gehirn braucht Pausen, um zu regenerieren. Unser Körper braucht Ruhe, um zu heilen. Unsere Seele braucht Stille, um zu wachsen.
Die wahre Kunst liegt nicht darin, auf den Wellen des Lebens zu überleben, sondern auf ihnen zu surfen. Flexibel bleiben, ohne sich zu verlieren. Robust sein, ohne zu verhärten. Unsere Welt hat Kreativität zum Luxus degradiert – nur Gewinn zählt. Aber schöpferisches Tun ohne Erfolgsdruck ist kein Luxus, es ist Neuroplastizität in Aktion. Diese Elastizität entsteht paradoxerweise durch Reduktion. Weniger Ballast macht beweglicher.
Bei nomíra übersetzen wir diese Erkenntnis in agile Prozesse: Nicht starr an Plänen festhalten, sondern mit Veränderungen fliessen. Die Energie der Bewegung nutzen, statt gegen sie anzukämpfen.

