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Die Kraft der Konzentration

Focus First: Warum weniger Arbeitszeit zu mehr Ergebnis führt

Vom Ortswechsel zur inneren Klarheit: Wie fokussiertes Arbeiten mein Leben verändert. Ein persönlicher Erfahrungsbericht über die Kraft eines fokussierten Lebens. Teil 2 der New Work Trilogie

Autor:
Damian Müller
Lesezeit:
8 Minuten
Dezember 2025

Die Illusion der Veränderung

Vor einiger Zeit schrieb ich hier über mein Leben als Digital Nomad in Teilzeit. Über die Inspiration neuer Orte, die Freiheit des mobilen Arbeitens, die Balance zwischen Struktur und Spontaneität. Was ich damals nicht schrieb: Ich war auf der Flucht. Nicht vor einem konkreten Problem, sondern vor einer diffusen Disharmonie, die sich über Jahre in mein (Arbeits-)Leben geschlichen hatte.

Der Ortswechsel half – temporär. Neue Städte, andere Perspektiven, frische Impulse. Doch irgendwann wurde mir klar: Ich kann die Welt bereisen, aber mich selbst nehme ich immer mit. Die eigentliche Reise musste nach innen führen.

Die Erkenntnis: Weniger ist kraftvoller

"Zu leben ist das Seltenste auf der Welt", schrieb Oscar Wilde einmal. Die meisten Menschen, so seine Beobachtung, existieren bloss. Diese Zeilen fanden mich in einer Phase, in der ich zwar viel arbeitete, aber wenig bewirkte. In der ich ständig beschäftigt war, aber selten wirklich produktiv. In der ich überall war, aber nirgends so richtig ankam.

Die ersten Schritte waren unbequem. Das Denken (versuchen) auszschalten. Auf die Intuition zu hören. Es fühlte sich falsch an in einer Welt, die uns auf Daueranalyse programmiert hat. Doch genau darin lag der Schlüssel: Practice of Listening nennen es manche, ich nenne es zur Ruhe kommen. Schrittweise tastete ich mich an eine neue Balance heran, experimentierte mit Arbeitsrhythmen, testete verschiedene Fokus-Fenster.

Unser Gehirn ist eigentlich genau für diesen Lifestyle gemacht – für tiefe Konzentration, gefolgt von echter Erholung. Nicht für das digitale Dauerfeuer, dem wir es aussetzen. Leichte Abwechslung ja, aber in gesundem Mass. Nicht ständiges Hin und Her, sondern bewusste Übergänge. Im Loslassen der alten Muster lag plötzlich Klarheit.

Lange hatte ich meine Zukunft verschwendet mit dem Hoffen auf eine bessere Vergangenheit. In Gedankenschleifen gefangen die nirgendwohin führten. Es gibt Versionen von uns selbst, die einmal passten. Heute engen sie uns ein. Erst wenn wir sie loslassen, können wir wieder atmen. Nicht die Anzahl der Arbeitsstunden bestimmt unsere Leistung, sondern die Qualität unserer Aufmerksamkeit.

Joseph Jebelli beschreibt in 'Brain at Rest' eindrücklich, wie unser Gehirn Ruhephasen braucht, um Höchstleistungen zu erbringen. Ali Abdaal zeigt in 'Feel-Good Productivity', dass Stress und Produktivität keine natürlichen Partner sind. Und Johannes Hartl geht in 'Die Kraft eines fokussierten Lebens' noch weiter: Fokus ist keine Technik, sondern eine Lebenshaltung.

Der neue Rhythmus: 4–6 Stunden pure Konzentration

Heute arbeite ich radikal anders. Mein Tag kennt nur einen heiligen Block: 4 bis 6 Stunden absolute Fokusarbeit. Manchmal vormittags. Manchmal aufgeteilt in zwei intensive Sessions. Manchmal als kompakter Block am Nachmittag.

In diesen Stunden existiert nichts anderes. Keine E-Mails, keine Calls, keine "kurzen Fragen". Nur ich und die Aufgabe. Mit der komplexen Herausforderung beginnen – wenn die mentale Energie noch frisch ist, wenn der innere Widerstand noch schläft.

Das Resultat? Ich erreiche in diesen fokussierten Stunden mehr als früher in ganzen Tagen. Nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ. Die Arbeit fliesst, Lösungen entstehen wie von selbst, Kreativität wird zum Normalzustand. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi nennt es Flow – jenen Zustand, in dem Zeit keine Rolle spielt und wir vollständig in unserer Aufgabe aufgehen. Es ist im Grunde Spielen für Erwachsene: völlige Absorption, intrinsische Motivation, pure Freude am Tun. Dieser Flow braucht die richtige Dosis Herausforderung: zu wenig und wir langweilen uns, zu viel und wir blockieren. Im Sweet Spot dazwischen, wo Anspannung und Entspannung sich die Waage halten, entsteht Magie.

Das bedeutet nicht, dass Meetings und E-Mails verschwinden. Sie bekommen nur ihren eigenen Platz. E-Mails checke ich in definierten Zeitfenstern, Notifications sind auf ein Minimum beschränkt. Meetings bündele ich an bestimmten Tagen, niemals vermischt mit Deep-Work-Sessions. Ein Tag ist entweder für Kreativität oder für Kommunikation reserviert – aber nie für beides gleichzeitig. Diese klare Trennung schafft Raum für echte Präsenz: voll fokussiert in der Arbeit, voll präsent im Meeting.

Die Prinzipien: Macht durch Fokus

"I'm willing to see differently". Bereit sein, anders zu sehen, anders zu denken, anders zu arbeiten. Es geht um ein Gefühl der persönlichen Macht, wobei Macht hier nichts mit Kontrolle über andere zu tun hat. Es ist die Gleichung: Macht = Freiheit + Verantwortung. Die Freiheit, meinen Tag zu gestalten. Die Verantwortung, diese Freiheit weise zu nutzen. Die Freiheit, meinen Körper und Geist zu fühlen und zu achten.

Das digitale Multitasking, einst mein vermeintlicher Produktivitäts-Booster, erkannte ich als das, was es wirklich ist: ein Energie-Vampir. Ständige Kontextwechsel, viele parallele Projekte, die Illusion der Effizienz: all das macht nicht produktiver, sondern ängstlicher, gehetzter, erschöpfter. Joseph Nguyen bringt es in 'Hör auf zu glauben, was du denkst' auf den Punkt: Unsere Gedanken über Produktivität sabotieren oft unsere tatsächliche Produktivität.

Stattdessen: Fokus bedeutet nicht Verbissenheit. Es bedeutet, präsent zu sein in dem, was man tut. Vollständig da zu sein, und dann auch vollständig loszulassen. Bill Burnett zeigt in 'Designing Your Life', dass wir unser Leben wie Designer gestalten können. Prototypen, testen, iterieren. Keep it deep and simple, wie Jon Kabat-Zinn sagt. Nicht nur einen Mittelpunkt und fixen Plan haben, sondern spielerisch durchs Leben gehen.

Die Praxis: Breathwork und Boundaries

Meine Werkzeuge für diesen Fokus sind überraschend simpel. Meine Morgen beginnen mit bewusstem Breathwork – nicht als esoterisches Ritual, sondern als praktisches Tool, um Energie zu ziehen und meine Stärken gezielt einzusetzen. Unbedingt noch vor dem Blick aufs Smartphone und dem ersten Espresso. Es ist mein Zugang zu den stillen, subtilen Formen des Wissens – jenen schüchternen Erkenntnissen, die im Lärm des Alltags untergehen. Wenn der Weg unklar wird, nutze ich Breathwork als mentalen Reset. Es hilft beim Reframing festgefahrener Ideen und erinnert mich daran, mich nie in die erste Lösung zu verlieben. Es öffnet den Geist für das grosse Bild, für Visionen jenseits des Alltäglichen. Yasin Seiwasser nennt es in 'Mental Shower' die Kunst, den Kopf freizubekommen für das, was wirklich zählt.

Genauso wichtig: Lernen, Nein zu sagen. Vielleicht das Mutigste, was wir tun können. Nein zu Meetings, die keine sind. Nein zu Projekten, die nicht aligned sind. Nein zu der Erwartung, ständig erreichbar zu sein. Es geht nicht um Egoismus, sondern um Achtsamkeit. Oder nach Mark Manson: Echte Freiheit entsteht paradoxerweise durch Verpflichtung. Sich zu einem Weg bekennen, Alternativen ablehnen, aufhören nach Vielfalt ohne Tiefe zu streben. Jedes bewusste Nein schafft Raum für ein tieferes Ja. Ohne Grenzen richten sich Aufmerksamkeit und Energie ständig nach aussen. Jedes Ja zu etwas, das nicht passt, ist ein Nein zur eigenen Kreativität, zur Inspiration, zur Energie.

Diese Boundaries sind das Fundament meines Focus-Work-Settings. Abgrenzung ist keine Schwäche, sondern Selbstfürsorge. Für mich Einstehen bedeutet auch, für die Qualität meiner Arbeit einzustehen. Es schafft Raum. Es wirkt befreiend. Es macht Fokus erst möglich.

Bereit für mehr Fokus?

Der Gewinn: Mehr durch weniger

Die Rechnung ist simpel und (noch immer) revolutionär zugleich: 4–6 Stunden voller Fokus > 8–10 Stunden fragmentierter Aufmerksamkeit. Aber der wahre Gewinn liegt tiefer. Es ist die Ruhe, die sich einstellt, wenn man weiss, dass die wichtige Arbeit getan ist. Die Kraft, die entsteht, wenn Energie nicht mehr verpufft, sondern gezielt eingesetzt wird. Die Klarheit, die kommt, wenn der mentale Nebel sich lichtet.

Produktivität fühlt sich plötzlich nicht mehr nach Kampf an, sondern nach Flow. Kreativität wird nicht mehr erzwungen, sondern kultiviert. Und das Leben? Das findet wieder statt. In den Stunden nach dem Fokus, in der gewonnenen Zeit, in der neu entdeckten Leichtigkeit.

Die Kraft der Konzentration

Meine Vision heute: "Embrace freedom, spark inspiration, embody simplicity." Oder noch kürzer: "Liberate. Inspire. Simplify." Es sind nicht nur Worte, sondern Wegweiser. Sie erinnern mich daran, was mir wichtig ist, was mir Energie gibt.

Die Reise vom Teilzeit Digital Nomad zum fokussierten Leben war keine geplante. Sie entstand aus der Notwendigkeit, aus der Disharmonie, aus dem Mut, anders zu denken. Heute weiss ich: Die wichtigste Reise führt nicht zu neuen Orten, sondern zu neuer Klarheit.

Und hier schliesst sich der Kreis: Der fokussierte Arbeitsrhythmus macht das nomadische Leben erst so richtig möglich. Vier bis sechs Stunden konzentrierte Arbeit funktionieren überall – im Café in Reykjavík oder im Co-Working Ecosystem in Bordeaux genauso wie im Office in Aarau. Die gewonnene Zeit und Energie? Die investiere ich in neue Orte, fremde Kulturen, inspirierende Begegnungen.

Kein Entweder-Oder mehr, sondern ein kraftvolles Sowohl-Als-Auch: Die Disziplin des Fokus ermöglicht die Freiheit des Reisens. Die Inspiration neuer Orte beflügelt die konzentrierte Arbeit. Digital Nomad trifft auf Focus Work. In dieser Verbindung finde ich mein ideales Work-Life-Setting.

Be still and know. In der Stille liegt die Kraft. Im Fokus die Freiheit.
Und in weniger oft so viel mehr.

Buchempfehlungen für die eigene (Fokus-)Reise:

Zum Thema Focus Work:

  • Brain at Rest – Joseph Jebelli
  • Feel-Good Productivity – Ali Abdaal
  • Die Kraft eines fokussierten Lebens – Johannes Hartl
  • Designing your life – Bill Burnett, Dave Evans

Zu Ruhe, Kraft und Energie:

  • Mental Shower – Yasin Seiwasser
  • Hör auf zu glauben, was du denkst – Joseph Nguyen
  • Ikigai – Héctor Garcia, Francesc Miralles
  • Breath – James Nestor
  • The Subtle Art of Not Giving a F*ck – Mark Manson

Über den Autor:
Damian führt nomira.ch, ein digitales Design-Studio mit Fokus auf UX und Visual Design. Wenn er nicht gerade Webflow-Projekte umsetzt oder an Design-Systemen feilt, findet man ihn beim Tennis, Padel oder auf Wanderungen in den Bergen.

Dieser Artikel ist Teil 2 meiner persönlichen Reise. Den Anfang – wie alles mit dem Leben als Teilzeit Digital Nomad begann – könnt ihr hier nachlesen: Teilzeit Digital Nomad: Mein Weg zu Balance und Inspiration.